Unter dem Motto „Schreibe Deine Filmkritik!“ fand 2019 zum zweiten Mal ein Filmkritik-Workshop statt. Die Jugendlichen besuchten das arabische Filmfestival „Al Film“ und sahen sich gemeinsam mehrere Filme an. Sie erlernten Grundkenntnisse des Schreibens von Filmkritiken und diskutierten die Darstellung von „dem“ Islam und „den“ Musliminnen bzw. Muslimen in unterschiedlichen Filmbeispielen. Die Jugendlichen schrieben Rezensionen zu den von ihnen besuchten Filmen und beschäftigten sich darüber hinaus mit der Frage, welche Rolle Medien im Hinblick auf die öffentliche Wahrnehmung „des“ Islams und von „den“ Musliminnen und Muslimen spielen.
Im ersten Treffen stellten die Workshopleiterinnen Dr. Sabrina Dittus und Ira Kormannshaus den Ablauf des Workshops vor, beantworteten Fragen und gaben den Teilnehmenden Gelegenheit sich kennenzulernen. Im Anschluss zeigten sie mehrere Videos, die den Teilnehmenden verdeutlichten, wie verschiedene Stereotype und Vorurteile dargestellt und konstruiert werden können. Dr. Dittus erläuterte das Konzept der Repräsentation: Während die abbildende Repräsentation die Wirklichkeit darstellt, vermittelt die intentionale Repräsentation die Intention der Urheberinnen bzw. Urheber. Die konstruktivistische Repräsentation zielt darauf ab, eine bestimmte Wirklichkeit zu konstruieren.
Mit diesem theoretischen Wissen analysierten die Teilnehmenden Bild- und Videomaterial, das sich mit „dem“ Islam oder Musliminnen und Muslimen auseinandersetzt und die Formen von Repräsentation veranschaulicht. Die Auseinandersetzung mit der Wirkung von Repräsentationsformen ermöglichte es den Teilnehmenden nachzuvollziehen, weshalb bestimmte Bilder in den Köpfen der Zuschauerinnen und Zuschauer erzeugt werden. Die Gruppe schaute gemeinsam den Film „Planet of the Arabs“, der eine Aneinanderreihung von Szenen aus westlichen Filmen in denen Muslime dargestellt werden, beinhaltet. „Planet of the Arabs“ verdeutlicht, dass männliche Muslime in westlichen Filmen oftmals als Terroristen oder böswillige Scheiche dargestellt, während Musliminnen oftmals die Rolle der geheimnisvollen Verführerin oder der unterdrückten Muslima erhalten.
Ferner tauschte sich die Gruppe darüber aus, wie wichtig es ist, zu erkennen, aus welcher Perspektive Filme aber auch andere Berichterstattungen erzählt werden. In medialen Berichterstattungen wird oftmals das Bild „Wir versus die Anderen“ geschaffen. Dieses Bild prägt die Vorstellung von gesellschaftlichen Zusammenhängen und Ereignissen, so auch die Wahrnehmung von Musliminnen und Muslimen in nicht-muslimischen Ländern. Musliminnen bzw. Muslime werden oftmals als Gegenstück zur nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft dargestellt. Ein sogenanntes „Othering“ (die Bezeichnung einer vermeintlich fest bestehenden Gruppe als fremd und „anders“ und somit als nicht-zugehörig), von Musliminnen bzw. Muslimen findet auch über die Kreation der vermeintlichen Gegenpole „Orient“ und „Okzident“ statt. Die Teilnehmenden stellten ebenfalls fest, dass sich die Darstellung muslimischer Weiblichkeit und Männlichkeit oftmals grundlegend von der Darstellung nicht-muslimischer Weiblichkeit und Männlichkeit in westlichen Medien unterscheidet.
Die zweite Workshop-Leiterin Ira Kormannshaus erklärte den Teilnehmenden, dass eine Filmkritik in zwei Schritten verfasst werden sollte. Im ersten Schritt gibt die Kritikerin bzw. der Kritiker zunächst die Handlung des Films wieder, ordnet ihn in ein Genre ein und gibt weitere Informationen zum Hintergrund und der Entstehung des Films, insofern diese relevant sind. Ferner schildert die Kritikerin bzw. der Kritiker die akustischen und visuellen Erlebnisse des Films. Hierbei werden u. A. die Filmmusik, die Erzählform des Films (z. B. Häufigkeit der Dialoge), die Farb- und Lichtgebung, sowie die verschiedenen Kameraperspektiven und -führungen beschrieben. Wichtig ist hierbei, dass diese Beschreibungen stets objektiv geschildert werden, da es sich bei ihnen um Fakten handelt, unabhängig von der persönlichen Wahrnehmung der Kritikerin oder des Kritikers. Im zweiten Schritt folgt das subjektive Urteil der Kritikerin / des Kritikers. Bei dieser eigenen Bewertung werden dann die Ergebnisse des ersten Schritts näher betrachtet. Hierbei werden Fragen miteinbezogen wie: Wie wirkt das akustische und visuelle Erlebnis auf die Zuschauenden? Ist der Film durch zu viel oder zu wenig Dialog geprägt? Liefert der Film den Zuschauenden ausreichend Kontext, um den Film zu verstehen? Welche Botschaft sendet der Film und wie ist diese zu bewerten?
Gemeinsam mit Frau Kormannshaus sah die Gruppe den Kurzdokumentarfilm „Biotop“, der die Errichtung einer Unterkunft für Geflüchtete in einem deutschen Vorort und die Reaktion der Anwohnerinnen bzw. Anwohner auf diese Unterkunft thematisiert. Die Teilnehmenden analysierten zum einen die filmstilistischen Elemente des Films und besprachen ihre Bedeutung für das filmkritische Schreiben. Zum anderen diskutierten sie aber auch in einer Gesprächsrunde die Aussagen der im Film gezeigten Anwohnerinnen und Anwohner im Hinblick auf die Unterkunft für Geflüchtete.
Zwischen den Treffen sahen sich die Teilnehmenden auf dem Filmfestival „Al Film“ unter anderem die Filme „Yomeddine“, „Zagros“ und „Sofia“ an. Die Gruppe beobachtete, dass arabische Filmemacherinnen und Filmmacher bestimmte Themen häufig anders darstellen und gewichten als westliche. So thematisiert „Zagros“ die Unterdrückung einer Frau und ihren Kampf gegen diese. Im Gegensatz zu der demütigen und schweigenden Muslima, wie sie in westlichen Medien häufig dargestellt wird, sind die Frauen in „Zagros“ starke Charaktere, die ihr Schicksal in die Hand nehmen. „Yomeddine“ problematisiert die Diskriminierung derjenigen, die als „anders“ (z. B. durch eine Behinderung) wahrgenommen werden und nicht der jeweiligen Normalität einer Gesellschaft entsprechen. Die Teilnehmenden bemerkten, dass der Film ein Problem thematisiert, dass in jeder Gesellschaft existiert, kritisierten aber, dass in „Yomeddine“ kaum Frauen repräsentiert sind.
Auch im Film „Sofia“ geht es um den Kampf einer Frau. Sie ist ungewollt schwanger geworden und versucht den Vater ihres Kindes ausfindig zu machen, um das Ansehen ihrer Familie zu schützen. Der Film thematisiert die schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Zustände, in denen marokkanische Frauen oftmals leben. Im Anschluß an den Film fand eine Diskussion statt, in der u. a. folgende Themen besprochen wurden: Klassenverhältnisse, die in einer Gesellschaft existieren; die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs durch Heirat; die Darstellung der Frau bzw. der Geschlechterverhältnisse in dem Film, sowie die Instrumentalisierung von Religion, um die Ungleichstellung von Frauen und Männern zu legitimieren.
Im Laufe des Workshops sahen die Teilnehmenden eine Vielzahl an arabischen Filmen und schrieben hierzu ihre Filmkritiken. Viele Teilnehmende stellten fest, dass sie bisher kaum arabische Filme gesehen oder sich näher mit ihnen auseinandergesetzt hatten. Die Teilnehmenden empfanden die Auseinandersetzung mit „dem“ arabischen Film als sehr bereichernd. Alle waren sich einig, dass sie in Zukunft mit einem kritischeren Auge auf die Darstellung von „dem“ Islam, Muslimen und insbesondere Musliminnen in westlichen Medien blicken werden.
Teilnehmende: In Berlin lebende Jugendliche verschiedener Herkunft im Alter von 16 bis 27 Jahren
Zeitraum: 5 Termine im April – Juni 2019
Workshop-Leiterinnen: Dr. Sabrina Dittus (Filmemacherin, Autorin, Journalistin und Dozentin) und Ira Kormannshaus (Kuratorin und Journalistin)