Facetten des Islams
Neben den von La Red und agitPolska durchgeführten Workshops wurde im Rahmen des Projektes WIR HIER! auch eine öffentliche, niedrigschwellige Vortragsreihe angeboten. In der gemütlichen Atmosphäre des „Clubs der polnischen Versager“ referierten unsere Expertinnen und Experten zu ihren Themen und luden im Anschluss zur Diskussion ein.
„Die Ursprünge des Islams“ (Saskia Pilgram)
Den Auftakt unserer Vortragsreihe bildete der Grundlagenvortrag von Saskia Pilgram. Die Studentin der Islamwissenschaft und studentische Mitarbeiterin bei Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung e.V. referierte in ihrem Vortrag über die Ursprünge des Islams und seine zwei größten Strömungen. Zu Beginn erklärte sie, welches die wichtigsten Quellen der Islamwissenschaft zur Rekonstruktion des Lebens des Propheten Muhammads und seines Umfeldes sowie der Anfänge des Islams sind: an erster Stelle der Koran, der von Musliminnen und Muslimen als das unmittelbare Gotteswort betrachtet wird und daher eine zentrale Rolle im Islam einnimmt. Als weiteres die Prophetenbiografie (Sira) sowie verschiedene genealogische, biografische und geografische Werke aus der Zeit des Propheten und seiner Nachfolger.
Zur besseren Veranschaulichung der Thematik nahm die Referentin anhand verschiedener Karten eine Einordnung der geografischen, sozialen und religiösen Gegebenheiten des Arabiens in vorislamischer Zeit vor. Ab der Geburt des Propheten Muhammads, welche um 570 n.Chr. eingeordnet wird, zeichnete Frau Pilgram einen chronologischen Ablauf der Ereignisse bis zu seiner ersten Offenbarung, die auf das Jahr 610 n.Chr. datiert wird. Wenig später folgte die Auswanderung von Mekka nach Medina (genannt Hidschra), die den Beginn der islamischen Zeitrechnung einläutete. Zahlreiche Eroberungen und somit die Expansion der islamischen Welt – oft in Zusammenhang mit Kriegen, Unterwerfung und Konversion – prägten das Bild der folgenden Jahre.
Nach Muhammads Tod kam es unter seinen Anhängern zu Streitigkeiten um die Nachfolge der Führung der muslimischen Gemeinde. Frau Pilgram erläuterte, inwiefern diese Streitigkeiten nach und nach zur Spaltung der Gemeinde u.a. in die zwei größten Strömungen des Islams führten: die Sunniten und die Schiiten. Dazu stellte sie sowohl die drei ersten von der Mehrheit der Sunniten anerkannten Kalifen (Nachfolger des Propheten) Abu Bakr, Umar und Uthman vor als auch Ali, der in der sunnitischen Tradition als vierter und in der schiitischen Tradition als erster rechtmäßiger Nachfolger betrachtet wird. Aufgrund dieser Uneinigkeit in der muslimischen Gemeinde spaltete sich die Partei Alis, aus der die Schiiten hervorgingen, ab.
Anhand von ausgewählten Vergleichskriterien – die Nachfolgefrage, Rituale, religiöse Unterschiede, Korantexte, Rechtsschulen – stellte die Referentin anschließend Unterschiede zwischen diesen beiden Strömungen dar. Abschließend ging sie auf die aktuelle geografische Verteilung der verschiedenen islamischen Glaubensrichtungen in der Welt ein.
Im Anschluss an den Vortrag konnten die Teilnehmenden in einer offenen Runde Fragen stellen. Hierbei ging es insbesondere um islamische Traditionen, die arabische Sprache, den Koran und Gemeinsamkeiten zwischen Islam und Christentum. Es gab eine aktive Beteiligung der Teilnehmenden an der Diskussion und reges Interesse am Thema.
„Islam in den Medien“ (Dr. Sabine Schiffer)
Der zweite Vortrag unserer Vortragsreihe wurde von der Leiterin des Instituts für Medienverantwortung Erlangen, Frau Dr. Sabine Schiffer, gehalten.
Gleich zu Beginn stellte sie klar, dass der Titel „Islam in den Medien“ grundsätzlich so nicht verwendet werden sollte, da „der Islam“ so gut wie keine Beachtung in den Medien findet. Stattdessen finden wir konstruierte Bilder zu Themen wie beispielsweise Terrorismus, Politik oder Menschenrechte, die mit islamischen Komponenten vermischt werden. Frau Dr. Schiffer bezog sich speziell auf die Massenmedien und nahm die 1980er Jahre (1979 iranische Revolution) als Ausgangspunkt des Diskurses, der damals mit dem Bild der unterdrückten Frau im Islam ein sehr dürftiges und undifferenziertes Bild des Islams darstellte. Dies basiert auf Fakten, die sehr häufig gar nicht islamspezifisch sind, ihm aber alleine zugewiesen und verallgemeinert werden. Weiterhin zeigte sie die Entstehung sogenannter Frames (unbewusster Wahrnehmungsrahmen, „Schubladendenken“) anhand der islamischen Frauenunterdrückung – unter anderem auch durch das Buch „Nicht ohne meine Tochter“ von Betty Mahmoody.
Durch die visuelle Darstellung verschiedener Titelcover einiger deutscher Nachrichtenmagazine wie Focus, Spiegel, Stern und Cicero zeigte die Referentin verschiedene Stereotype rund um den Islam auf und machte zugleich auf die politische Instrumentalisierung der Medien aufmerksam. Als Beispiel diente der Fall der verstümmelten Bibi Aisha in Amerika.
Als eine sehr häufig von den Medien verwendete Darstellungsmethode von Informationen stellte Frau Dr. Schiffer den Sinn-Induktions-Schnitt vor. Hierbei werden implizit und in unbemerkter Schnelligkeit unterschiedliche Bilder und Themen per Schnitt zu einem Ganzen zusammengefügt. „In den 90er Jahren wurde z.B. bei den Berichten Peter Scholl-Latours dessen tendenziöse Schnitttechnik kritisiert, die christliche Gottesdienste mit grünen Hügellandschaften und Moscheebilder mit blutrünstigen Szenen kombinierte.“
Die Referentin zeigte zudem, dass es fast keine muslimischen Symbole mehr gibt, die nicht von den Medien (wie auch von sog. Islamisten) als Symbole für Islamismus und Terrorismus umgedeutet werden, so z.B. die Moschee, das Kopftuch, das Gebet oder die Heiligenstätte Mekka. Die Zuweisung dieser Symbole zu Unterdrückung, Gewalt und Dramatik sind in zahlreichen Filmen, Büchern, Zeitschriften etc. zu finden.
Abschließend kam es zu einem angeregten Austausch zwischen der Referentin und dem Publikum mit vielen spannenden Fragen.
„Märchen in der arabisch-islamischen Welt“, (Otmane Lihiya)
Der dritte Vortrag, referiert von dem Sprach- und Literaturwissenschaftler Otmane Lihiya, nahm die traditionelle Kunst des Märchenerzählens in Marokko in den Fokus. Herr Lihiya, selbst gebürtiger Marokkaner und zeitweiliger Märchenerzähler, ist leidenschaftlicher Sammler und Übersetzer islamisch-arabischer Märchen. Heutzutage sind die Kunst und die Verbreitung des Märchenerzählens nur noch in Marokko und Syrien (bis zum Ausbruch des Krieges) zu finden. Islamisch-arabische Märchen werden traditionell nicht nur Kindern sondern auch Erwachsenen entweder zu Hause – abends nach dem letzten Gebet – oder im öffentlichen Raum erzählt, wie beispielsweise täglich auf dem berühmten Platz in Marrakesch, dem Djeema El Fna.
Herr Lihiya erklärte, welche Eigenschaften Märchenerzählerinnen und -erzähler aufweisen müssen und wie sie vorgehen. Professionelle Märchenerzählerinnen und -erzähler müssen raffinierte schauspielerische Fähigkeiten besitzen, um ihr Publikum auf den Straßen und Plätzen zu rekrutieren. So steigern sie beispielsweise die Chance auf eine neugierige Zuhörerschaft, indem sie ein Instrument spielen. Die Erzählungen dauern meistens nicht länger als 60 bis 90 Minuten und werden manchmal während der Pausen musikalisch begleitet, um die Spannung aufrecht zu erhalten. Nur durch die Neugier der Zuhörerschaft auf eine Fortsetzung der Geschichte sichert sich der Erzähler sein Einkommen.
Inhaltlich greifen die Erzähler auf ein breites Spektrum zurück, wie beispielsweise auf Biographien von Propheten und Kalifen, Geschichten aus der arabischen Mythologie, altarabische Märchen und natürlich Märchen aus 1001er Nacht. Letztere sind in Nordafrikanischen Ländern sehr beliebt, obwohl ihr Stoff seinen Ursprung größtenteils in Indien und Persien hat.
Die meisten Märchen thematisieren weniger ein interreligiöses Zusammenleben. Christinnen und Christen sind kaum Gegenstand einer Geschichte und auch nicht-gläubige Menschen werden selten erwähnt. Im Gegensatz dazu sind Jüdinnen und Juden des Öfteren Bestandteil von Märchen und besetzen darin meist die Rolle eines Beraters.
Herr Lihiya beklagt, dass das Erzählen zu Hause in den letzten Jahrzehnten leider dem Fernsehen gewichen ist. Stattdessen setzt sich die Erzähltradition aber nun teilweise in TV-Serien über das Leben von Propheten und Kalifen durch. (Nach der sunnitischen Lehre dürfen Propheten nicht gezeigt werden. Stattdessen treten Erzähler auf, die die Worte und Taten der Propheten wiedergeben.) Durch eine populär gewordene marokkanische Talent-Show haben glücklicherweise auch junge Menschen ihr Interesse am Märchenerzählen wieder gefunden.
Abschließend stellte das Publikum zahlreiche spannende Fragen. Dabei ging es vor allem um Vergleiche zwischen christlichen, westlichen und islamisch-arabischen Märchen.
Die Rolle der Frau im Islam“ (Pinar Cetin)
Der vierte und letzte Vortrag wurde referiert von Pinar Cetin. Sie ist selbst praktizierende Muslima, Projektleiterin der Beratungsstelle gegen Radikalisierung in der DITIB Sehitlik Moschee in Berlin, Diversity-Trainerin und studierte Politikwissenschaftlerin.
Frau Cetin machte in ihrem Vortrag deutlich, dass es „DIE“ Frau im Islam nicht gibt. Es gibt zwar vom Koran vorgeschriebene Normen, vielmehr aber spielen kulturelle Differenzen und unterschiedliche Traditionen eine Rolle für das, was die meisten von uns als „DIE“ Frau im Islam betrachten.
Die Traditionen in vielen muslimisch geprägten Ländern variieren von Land zu Land und selbst innerhalb eines Landes von Region zu Region. Dabei spielen auch Stadt-Land-Gefälle und der jeweilige Bildungsstand immer eine Rolle.
Als Beispiele für die regionalen Unterschiede führte Frau Cetin die Themen Verschleierung und traditionelle Kleidung an. Anhand von Koranversen zeigte sie, dass die Verdeckung der weiblichen Reize, wie das Dekolleté, durch ein Tuch gefordert wird. In diesem Zusammenhang betonte die Referentin aber auch, dass der Koran gleichermaßen eine Verdeckung der männlichen Reize fordert. Ihrer Ansicht nach wird im Koran nicht eindeutig von der Bedeckung der Haare gesprochen. Dennoch wird dies in den meisten Koranauslegungen und -interpretationen als Kopftuch ausgelegt. Infolgedessen ist es jeder Frau freigestellt dies individuell zu entschieden. Frau Cetin machte auch darauf aufmerksam, dass das Kopftuch, als häufigste Assoziation mit dem Islam, kein Maßstab für Religiosität und zudem kein individuelles Merkmal der islamischen Religion sei.
An einem konkreten Beispiel wurde deutlich, dass sich die Theorie der Religion (z.B. Koran) oftmals stark von der gelebten Praxis unterscheidet: So sind die Vorstellungen über Kleidung und äußeres Auftreten der Frau selbst innerhalb zweier an der Westküste der Türkei gelegenen Dörfern sehr verschieden. In einem am Meer gelegenen Dorf wird die Frau z.B. als sehr gleichberechtigt angesehen. Frauen haben dort die gleichen Bildungschancen und können die gleichen Berufswege einschlagen wie Männer. Das Tragen eines Kopftuches ist in dieser Region eher unüblich. In einem im Landesinneren gelegenen Dorf hingegen wird das Tragen eines Kopftuchs ebenso vorausgesetzt wie ein in der Öffentlichkeit zurückhaltendes Auftreten der Frau.
Frau Cetin machte anhand weiterer Koranverse zu Themen wie Ehe und Scheidung immer wieder deutlich, dass Frau und Mann im Koran grundsätzlich gleichstellt sind. Der Frau soll beispielsweise durch den Koran das Recht gegeben werden, selbst zu entscheiden, wen sie heiraten möchte und wen nicht. Demzufolge werden Zwangsehen als Option ausgeschlossen. Auch kann eine Frau rechtlich ebenso wie ein Mann eine Scheidung verlangen. (Nicht zu vernachlässigen ist hierbei allerdings der Einfluss der Familie, der in den meisten islamisch geprägten Ländern eine bedeutende Rolle spielt.)
Letztendlich sieht Frau Cetin im Koran Normen und Richtlinien für ihr Leben und nicht festgelegte und unveränderbare Antworten. Sie sieht den Koran als ein Spektrum von Möglichkeiten, welches die freie Entfaltung innerhalb der Religion ermöglicht, solange man sich seinen eigenen Weg sucht.
Als Erklärung für die starken Unterschiede in der Selbstdarstellung und -wahrnehmung der muslimischen Frau sieht die Referentin ein Bildungsproblem als entscheidenden Faktor. In vielen muslimischen Gesellschaften haben Frauen einen eingeschränkteren Zugang zu Bildung und somit nicht die Grundvoraussetzungen, um z.B. den Koran lesen zu können. Somit fehlt ihnen eine wichtige Voraussetzung, ihre Religion wirklich zu kennen, zu verstehen und ihre Rechte einzufordern.
Frau Cetin machte weiterhin darauf aufmerksam, dass in allen muslimischen Gesellschaften auch starke Frauenbewegungen existieren, die sich leider nur oftmals nicht gegen patriarchalische Gesellschaften durchsetzen können. Zudem werden sie teilweise aufgrund ihrer Religion von säkularen, feministischen Bewegungen nicht anerkannt, da diese in der religiösen Zugehörigkeit selbst eine Unterdrückung sehen. Frau Cetin selbst würde sich eine gemeinsame Bewegung wünschen, in der es vordergründig um die Rechte und den Zusammenhalt aller Frauen ginge.
Im Anschluss an den Vortrag wurden in unserer offenen Diskussion zahlreiche Fragen zu teils stereotypen Bildern im Islam gestellt, die dank unserer selbstreflektierten Referentin und Vertreterin der muslimischen Community in Deutschland sehr geduldig besprochen werden konnten.