Visionen einer interkulturellen Gesellschaft
Bereits im Projektjahr 2015 boten wir einen Theater-Workshop für spanischsprachige Jugendliche an. Theaterarbeit eignet sich besonders, um Szenen lebendig werden zu lassen. Jeder Teilnehmende erlebt zum einen wie das eigene Denken und Handeln in aktives Geschehen eingreift und andere Figuren in der Reaktion beeinflusst und zum anderen, wie es sich anfühlt, die Rolle von anderen Personen oder andere Charaktere und Einstellungen anzunehmen. Deshalb entschieden wir uns, auch 2016 einen Theater-Workshop anzubieten. Allerdings öffneten wir den Workshop in diesem Jahr zusätzlich auch für russischsprachige Jugendliche mit Migrationshintergrund. Das Thema des Workshops lautete „Visionen einer interkulturellen Gesellschaft“.
Als Einstieg in das Thema, setzte sich die Gruppe mit „Medien“ auseinander. Welche Medien gibt es in den entsprechenden Herkunftsländern? Welche Verantwortung tragen sie? Welchen Einfluss nehmen sie auf die Auseinandersetzung mit einem Thema und die eigene Meinungsbildung? Inwieweit werden Vorurteile und Stigmatisierungen durch die Medien generiert oder verstärkt? Es kam zu einer lebhaften Diskussion, in der die Teilnehmenden u. a. auch darüber debattierten, ob Medien als vierte Macht gesehen werden können und wie objektiv eine Berichterstattung sein kann. Die Teilnehmenden nahmen sehr schnell Bezug auf die gegenwärtige Berichterstattung hinsichtlich des Zuzugs von Geflüchteten. Wie wird über dieselbe Situation in unterschiedlichen Ländern berichtet?
In einer ersten Improvisations-Übung überlegten sich die Teilnehmenden paarweise eine bestimmte Situation, die sie aus jeweils konträren Sichtweisen spielerisch darstellten. Jede Improvisation wurde anschließend innerhalb der Gruppe reflektiert. Es wurde deutlich, wie unterschiedlich ein und dieselbe Situation auf einen Menschen wirken kann bzw. wie unterschiedlich eine Situation (bewusst oder unbewusst) interpretiert werden kann und wie es sich anfühlt, andere Positionen anzunehmen.
Gegen Ende des ersten Workshoptages überlegte die Gruppe gemeinsam, wie sie das Thema „Visionen einer interkulturellen Gesellschaft“ spielerisch umsetzen könnte. Die Teilnehmenden beschlossen, für die Abschlussveranstaltung im Oktober eine Szene zu erarbeiten, in der eine Person vor einem Fernseher sitzt und Nachrichten der Gegenwart sieht. Nach einer plötzlichen Störung werden die Nachrichten aus dem Jahr 2030 gezeigt. Es gab angeregte Diskussionen darüber, was in Zukunft anders sein könnte und was man zeigen könnte. Einige Teilnehmende hatten Bedenken, dass man mit bestimmten Zukunftsvisionen die Zuschauerinnen und Zuschauer zu sehr provozieren oder sie in Angst versetzen könnte. Sind Ehen zwischen Jüdinnen / Juden und Musliminnen / Muslimen dann etwas Selbstverständliches? Können homosexuelle Partner in Moscheen heiraten? Wäre es möglich, dass über keinerlei Religionskonflikte mehr berichtet wird, weil es keine mehr gibt? Werden Amerikanerinnen und Amerikaner nach der Wahl von Donald Trump die neuen Geflüchteten und wird es ihnen gegenüber auch Ressentiments geben? Wird Bildung für alle Menschen dieser Erde zugänglich sein und somit für mehr Wissen und gegenseitiges Verständnis sorgen?
In den folgenden Treffen wurde die ursprüngliche Idee ausgearbeitet und durch neue Ideen erweitert. Während eines Treffens entstand der „Sprech-Chor“. Ausgehend von einer Diskussion über interkulturelles Zusammenleben, überlegten sich die Teilnehmenden Begriffe, die dieses ausdrücken könnten: Burka, Moschee, Koran, Bibel, Gender, Christen, Juden, Zukunft, Gay, Leben, Lieben… Jeder Teilnehmende wählte drei Begriffe. Ein Teilnehmer übernahm den Part des Dirigenten. Durch Handzeichen entschied er, in welcher Reihenfolge die Worte gesagt werden. So entstand ein Sprechgesang, der je nach Reihenfolge der Wörter unterschiedliche, individuelle Assoziationen und Bilder hervorrief. Dabei stellte die Gruppe fest, wie stark jeder Einzelne geprägt ist durch sein eigenes Erleben und seine Gedankenkonstruktionen. Jede und jeder ist beim Zuhören seinen eigenen Vorurteilen unterlegen. Die Gruppe entschied, diesen Sprechgesang an den Beginn ihres Stückes zu stellen.
Bei jedem Treffen entstanden neue Nachrichtentexte, die anschließend in der Gruppe spielerisch umgesetzt wurden. Die Entwicklung der Nachrichtentexte ging immer einher mit Diskussionen, in denen die Teilnehmenden ihre eigenen Einstellungen reflektierten und z.T. auch revidierten. Als äußerst interessant und bereichernd zeigte sich die heterogene Gruppenzusammensetzung aus Jugendlichen mit spanischem, russischem und ukrainischem Migrationshintergrund. Zum Teil fehlende Deutschkenntnisse spielten erstaunlicherweise innerhalb der Gruppe eine zu vernachlässigende Rolle, da immer jemand in die Muttersprache oder ins Englische übersetzen konnte.
Abschließend ist festzustellen, dass sich die Jugendlichen sowohl mit ihren eigenen Vorurteilen, als auch mit denen anderer Menschen sehr intensiv auseinandergesetzt haben. Sie reflektierten darüber, welche Bedeutung hierbei der Sozialisation in ihrem Herkunftsland zukommt und inwieweit das Verlassen ihres Heimatlandes ihre Vorurteile verstärkt oder abgebaut hat. Darüber hinaus debattierten sie darüber, inwieweit Bildung und Wissen zum Abbau von Vorurteilen führen kann. Als sehr positiv wurde von den Teilnehmenden bewertet, dass sie den Workshop von Beginn an partizipativ mitgestalten konnten.
Teilnehmende: in Berlin lebende spanisch- und russischsprachige Jugendliche verschiedener Herkunft im Alter von 16 bis 27 Jahren
Zeitraum: 8 Samstage à 4 bis 5 Stunden im Zeitraum Juni – Oktober 2016
Workshop-Leitung: Mirella Galbiatti, Christian Schodos